Oberlandesgericht Bamberg, Teilurteil vom 8. April 2024, Az.: 4 U 15/23e

Auskunftsklage gegen pharmazeutischen Unternehmer wegen dessen Impfstoff nach Impfkomplikation

Entscheidungen in Leitsätzen

ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2, § 254, § 263 Abs. 1, § 286, § 301, § 308 Abs. 1 Satz 1, § 415 Abs. 1, § 533 Nr. 1 Alt. 2, Nr. 2; AMG § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2, § 84a Abs. 1 Satz 1, S. 2; Brüssel Ia-VO Art. 7 Nr. 2; Rom II-VO Art. 4 Abs. 1, Art. 15 lit. A; MedBVSV § 3 Abs. 1, Abs. 4; BGB § 259 Abs. 1, § 260 Abs. 1, § 362 Abs. 1Leitsatz

Leitsätze des Gerichts:

1. Die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Erforderlichkeit einer Auskunft nach § 84a Abs. 1 AMG trifft den pharmazeutischen Unternehmer.

 

2. Die arzneimittelrechtliche Zulassung eines Impfstoffs in Kenntnis eines bestimmten Risikos schließt einen Auskunftsanspruch nach § 84a Abs. 1 AMG nicht aus, wenn die Möglichkeit besteht, dass sich nach der Zulassungsentscheidung neue Erkenntnisse ergeben haben, die zu einer anderen Entscheidung Anlass gegeben hätten.

 

3. Die geschuldete Auskunft umfasst nur die Informationen, die sich auf das im konkreten Einzelfall vorgebrachte Krankheitsbild – hier eine Thrombose mit Thrombozytopenie-​Syndrom (TTS) – beziehen und in einem Zusammenhang mit der Rechtsgutsverletzung stehen.

 

Gründe

 

I.

 

1 Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld und Schadensersatz sowie Auskunft aufgrund einer Darmvenenthrombose mit Thrombozytopenie-​Syndrom, die sie im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung mit dem Impfstoff „xxx“ der Beklagten gegen SARS-​CoV-​2 erlitten hat und welche sie auf diese Impfung zurückführt.

 

2 Die am ….1990 geborene Klägerin erhielt am 10.03.2021 im Impfzentrum in xxxx eine Impfung mit dem COVID-​19-​Impfstoff „xxx“ der Beklagten. Nach der Impfung traten bei der Klägerin am 20.03.2021 Unwohlsein, Durchfall und Schmerzen im Unterbauch auf, die sich in der Folge verstärkten. Als die Klägerin am 25.03.2021 Blut im Stuhl feststellte, rief sie auf Empfehlung ihrer Hausärztin den Notarzt. Die Klägerin befand sich vom 25.03.2021 bis 03.05.2021 im xxx Klinikum xxxx. Dort wurde eine Darmvenenthrombose mit Thrombozytopenie-​Syndrom diagnostiziert.

 

3 Am 25.03.2021 wurden der Klägerin im Zuge einer Dünndarmresektion mittels Thrombektomie über drei Meter Darm entfernt. Die Klägerin befand sich im Zeitraum vom 25.03.2021 bis 29.03.2021 im Koma und wurde invasiv beatmet, bis zum 07.04.2021 befand sich die Klägerin auf der Intensivstation. Am 07.04.2021 konnte die Klägerin auf die Normalstation verlegt werden. Durch die Dünndarmresektion leidet die Klägerin an einem Dauerschaden.

 

4 Die Beklagte ist die Herstellerin des verabreichten Impfstoffs und brachte die Produktionscharge, aus der die Klägerin geimpft wurde, am 28.02.2021 in den Verkehr.

 

5 Der Impfstoff war zunächst Ende Dezember 2020 von der englischen Arzneimittelbehörde MHRA mittels einer Notfallzulassung für die Anwendung im Vereinigten Königreich freigegeben worden. Am 29.01.2021 ließ die Europäische Kommission den Impfstoff EU-​weit in allen Mitgliedstaaten für die Anwendung bei Erwachsenen ab 18 Jahren vorläufig zu. Nach einer Verlängerung der vorläufigen Zulassung am 09.11.2021 um ein Jahr erteilte die Europäische Kommission auf Empfehlung der EMA am 31.10.2022 die Standardzulassung.

 

6 Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 250.000,00 €, den Ersatz von materiellen Schäden in Höhe von 17.200,00 € sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere materielle und immaterielle Schäden.

 

7 Das Landgericht hat die Klage mit Endurteil vom 03.01.2023 abgewiesen. Hiergegen richtet sich die anhängige Berufung der Klägerin, mit der sie ihre bisherigen Anträge weiterverfolgt.

 

8 Im Berufungsverfahren hat die Klägerin die Klage um eine Auskunftsklage erweitert.

 

9 Zuletzt beantragt die Klägerin insoweit, die Beklagte zu verurteilen,

 

10 Auskunft zu erteilen über die bei der Beklagten bekannten Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen, sowie ihr bekannt gewordene Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen und sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen von Darmvenenthrombosen, Cerebralen Sinusvenenthrombosen, Mesenterialvenenthrombosen und thromboembolischen Ereignissen im Zeitraum vom 27.12.2020 bis zur letzten mündlichen Tatsachenverhandlung von Bedeutung sein können.

 

11 Die Beklagte beantragt, den Auskunftsantrag abzuweisen.

 

12 Sie wendet die fehlende Erforderlichkeit der begehrten Auskunft und Erfüllung ein.

 

13 Nach Schluss der mündlichen Verhandlung sind am 10.03.2024 durch die Beklagte und am 02.04.2024 durch die Klägerin weitere Schriftsätze eingereicht worden.

 

II.

 

14 Eine Entscheidung über den in der Berufungsinstanz gestellten Auskunftsantrag durch Teilurteil ist zulässig, § 301 ZPO.

 

15 Da die von einem Geschädigten begehrte Auskunft gemäß § 84a AMG nicht dem Zwecke der Bestimmbarkeit eines Leistungsanspruchs – etwa nach § 84 AMG – dient, sondern ihm vielmehr sonstige mit der Bestimmbarkeit als solcher nicht in Zusammenhang stehende Informationen zur Rechtsverfolgung verschaffen soll, sind die Voraussetzungen für eine Stufenklage gemäß § 254 ZPO nicht erfüllt (BGH, Urteil vom 29. März 2011 – VI ZR 117/10 –, Rdnr. 10, juris). Es ist vielmehr von einer objektiven Klagehäufung auszugehen (BGH, Urteil vom 29. März 2011 – VI ZR 117/10 –, Rdnr. 13, juris), über die vorab durch Teilurteil entschieden werden kann (BGH, Urteil vom 29. März 2011 – VI ZR 117/10 –, Rdnr. 14, juris).

 

16 Die Gefahr einer widersprechenden Entscheidung (§ 301 ZPO) besteht zwar in diesem Fall, weil zwischen den prozessual selbständigen Ansprüchen eine materiell-​rechtliche Verzahnung besteht und der im Wege objektiver Klagehäufung geltend gemachte Auskunftsanspruch gemäß § 84a AMG lediglich ein Hilfsmittel ist, um den Leistungsanspruch durchzusetzen. Ein etwaiger Widerspruch zwischen den Entscheidungen über den Auskunftsanspruch und den Schadensersatzanspruch ist jedoch ebenso zu akzeptieren wie ein Widerspruch hinsichtlich der auf den verschiedenen Stufen der Stufenklage zu treffenden Entscheidungen (BGH, Urteil vom 29. März 2011 – VI ZR 117/10 –, Rdnr. 18, juris).

 

III.

 

17 Die Auskunftsklage entsprechend des zuletzt gestellten Antrags aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 04.10.2023 ist zulässig.

 

1.

 

18 Die in jeder Lage des Rechtsstreits zu prüfende internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist gegeben.

 

19 Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel-​Ia-​VO). Der Begriff „unerlaubte Handlung“ ist autonom und weit auszulegen. Unter ihn fallen alle Ansprüche auf Schadenshaftung, die nicht an einen Vertrag oder Ansprüche daraus anknüpfen (MüKoZPO/Gottwald, 6. Aufl. 2022, Brüssel Ia-​VO Art. 7 Rdnr. 49). Zuständig sind die Gerichte des Mitgliedsstaates, in dessen Hoheitsgebiet das schädigende Ereignis eingetreten ist. Eingetreten ist das schädigende Ereignis sowohl am Handlungs- wie am Erfolgsort (MüKoZPO/Gottwald, 6. Aufl. 2022, Brüssel Ia-​VO Art. 7 Rdnr. 55, m.w.N.).

 

20 Die Klägerin begehrt vorliegend von der Beklagten, einer Aktiengesellschaft nach schwedischem Recht (AB) mit Sitz in Schweden, Schadensersatz wegen der Gesundheitsschädigung durch ein von der Beklagten in den Verkehr gebrachtes Arzneimittel. Der Impfstoff wurde im Impfzentrum xxxx verabreicht (Handlungsort) und die von der Klägerin geltend gemachten Folgen (Erfolgsort) traten im Landgerichtsbezirk xxxx ein.

 

21 Auch der sachliche Anwendungsbereich ist eröffnet. Bei dem verschuldensunabhängigen Anspruch gegen den pharmazeutischen Unternehmer handelt es sich um die zentrale Vorschrift zur Haftung wegen Arzneimittelschäden im außervertraglichen Haftungsrecht (BeckOGK/Franzki, 1.11.2023, AMG § 84 Rdnr. 1, 3).

 

2.

 

22 Die nachträgliche Erhebung der Auskunftsklage ist zulässig.

 

23 Mit der erstmaligen Geltendmachung des Auskunftsanspruchs in der Berufungsinstanz liegt eine nachträgliche objektive Klagehäufung vor. Diese stellt nach allgemeiner Auffassung eine Klageänderung im Sinne des § 263 Abs. 1 ZPO dar, deren Zulassung sich in der Berufungsinstanz an § 533 ZPO messen lassen muss. Die Klageänderung ist sachdienlich, § 533 Nr. 1 Alt. 2 ZPO. Auch liegen die Voraussetzungen des § 533 Nr. 2 ZPO vor.

 

a)

 

24 Die Sachdienlichkeit ist objektiv im Hinblick auf die Prozesswirtschaftlichkeit zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Beurteilung der Sachdienlichkeit eine Berücksichtigung, Bewertung und Abwägung der beiderseitigen Interessen. Dabei ist entscheidend, ob und inwieweit die Zulassung der geänderten Klage den Streit im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits ausräumt, sodass sich ein weiterer Prozess vermeiden lässt. Eine Klageänderung ist danach nicht sachdienlich, wenn ein völlig neuer Streitstoff zur Beurteilung und Entscheidung gestellt wird, ohne dass dafür das Ergebnis der bisherigen Prozessführung verwertet werden kann (BGH, Urteil vom 2. April 2020 – IX ZR 135/19 –, Rdnr. 14, juris).

 

b)

 

25 Nach Auffassung des Senats ist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze die Sachdienlichkeit gegeben. Die Auskunftsklage ist bereits unter Zugrundelegung des bisherigen Streitstoffs entscheidungsreif. Damit lässt sich ein weiterer Prozess über das Auskunftsbegehren vermeiden.

 

c)

 

26 Die Klageänderung ist auch gemäß § 533 Nr. 2 ZPO zulässig. Nach § 533 Nr. 2 ZPO setzt eine Klageänderung in der Berufungsinstanz voraus, dass diese auf Tatsachen gestützt werden kann, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat. Vorliegend bleibt der bisherige Streitstoff auch für die Auskunftsklage eine verwertbare Entscheidungsgrundlage.

 

3.

 

27 Der zuletzt gestellte Auskunftsantrag entspricht den Erfordernissen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und ist hinreichend bestimmt.

 

28 In dem Antrag wird nicht nur der Gesetzeswortlaut wiedergegeben. Es wird auch der Zeitraum angegeben, auf den sich die Auskunft erstrecken soll (vgl. Kügel/Müller/Hofmann/Brock,

 

3. Aufl. 2022, AMG § 84a Rdnr. 77).

 

4.

 

29 Es fehlt auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis der Auskunftsklage.

 

30 Die Erhebung der bezifferten Schadensersatzklage hindert die Klägerin nicht, zur Verbesserung ihrer Beweissituation nachträglich eine Auskunftsklage gestützt auf § 84a AMG zu erheben. Die Geltendmachung in der Berufungsinstanz ist daher unschädlich.

 

31 Der Auskunftsanspruch nach § 84a Abs. 1 AMG kann unabhängig vom Schadensersatzanspruch aus § 84 AMG im Wege der Leistungsklage geltend gemacht werden (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84a Rdnr. 77; BeckOGK/Franzki, 1.4.2023, AMG § 84a Rdnr. 42, beck-​online). § 84a AMG ist ein selbständiger Hilfsanspruch zu § 84 AMG (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84a Rdnr. 2).

 

IV.

 

32 Die Auskunftsklage ist teilweise begründet. Der Klägerin steht im tenorierten Umfang ein Auskunftsanspruch gegen die Beklagte gemäß § 84a Abs. 1 Satz 1 AMG zu. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.

 

1.

 

33 Das deutsche materielle Recht findet vorliegend gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-​VO) Anwendung.

 

34 Auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung ist, sofern – wie hier – keine vorrangigen Kollisionsnormen eingreifen, nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-​VO das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind (BGH, Urteil vom 27. November 2023 – VIa ZR 1425/22 –, Rdnr. 11, juris). Nach Art. 15 lit. a) Rom II-​VO ist das Deliktsstatut, dem Prinzip der einheitlichen Anknüpfung folgend, maßgebend für den Grund der Haftung (BGH, Urteil vom 27. November 2023 – VIa ZR 1425/22 –, Rdnr. 14, juris). Gemäß Art. 15 lit. d) Rom II-​VO bestimmt das Deliktsstatut auch über Maßnahmen, die ein Gericht innerhalb der Grenzen seiner verfahrensrechtlichen Befugnisse zur Vorbeugung, zur Beendigung oder zum Ersatz des Schadens anordnen kann.

 

35 Aufgrund des Schadenseintritts im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik findet daher deutsches Recht Anwendung. Das Deliktsstatut umfasst die Haftung nach § 84 AMG und den geltend gemachten Auskunftsanspruch nach § 84a AMG. Mit Maßnahmen zum Ersatz des Schadens sind auch Auskunftsansprüche gemeint (BeckOGK/J. Schmidt, 1.12.2023, Rom II-​VO Art. 15 Rdnr. 36).

 

2.

 

36 Es besteht ein Auskunftsanspruch der Klägerin gemäß § 84a Abs. 1 Satz 1 AMG gegen die Beklagte, weil Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Impfstoff der Beklagten den Schaden der Klägerin verursacht hat. Es fehlt auch nicht an der Erforderlichkeit der begehrten Auskunft.

 

a)

 

37 Nach § 84a Abs. 1 Satz 2 AMG kann der Geschädigte unter den Voraussetzungen des § 84a Abs. 1 Satz 1 AMG von dem pharmazeutischen Unternehmer Auskunft über die bekannten Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen sowie die ihm bekannt gewordenen Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen und sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen von Bedeutung sind, verlangen.

 

38 Die Vorschrift des § 84a AMG verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele. Zum einen bezweckt sie die prozessuale Chancengleichheit, weil der Geschädigte in aller Regel den Weg des angewandten Arzneimittels von der ersten Forschung über die Erprobung bis zu dessen konkretem Herstellungsprozess nicht überschauen kann, während die pharmazeutischen Unternehmen – insbesondere zur Frage der Vertretbarkeit ihrer Arzneimittel – den jeweiligen Erkenntnisstand dokumentiert zur Verfügung haben. Im Hinblick darauf hielt es der Gesetzgeber für angebracht, dem Geschädigten die zur Geltendmachung der ihm zustehenden Ansprüche notwendigen Tatsachen zugänglich zu machen, um ihn in die Lage zu versetzen, im Einzelnen zu prüfen, ob ihm ein Anspruch aus Gefährdungshaftung zusteht. Zum anderen soll der Auskunftsanspruch die beweisrechtliche Stellung des Geschädigten im Arzneimittelprozess stärken. Der Geschädigte soll in die Lage versetzt werden, alle Fakten zu erlangen, die für die von ihm darzulegenden und zu beweisenden Anspruchsvoraussetzungen notwendig sind oder die er braucht, um die Kausalitätsvermutung des § 84 Abs. 2 AMG in Gang zu setzen (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 328/11 –, Rdnr. 10; BGH, Urteil vom 29. März 2011 – VI ZR 117/10 –, Rdnr. 9; BGH, Urteil vom 26. März 2013 – VI ZR 109/12 –, Rdnr. 39, jeweils juris).

 

b)

 

39 Es liegen im Streitfall Tatsachen vor, die die Annahme begründen, dass das Medikament der Beklagten bei der Klägerin einen Schaden verursacht hat, § 84a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AMG.

 

40 Thrombosen mit Thrombozytopenie-​Syndrom (künftig: TTS) sind inzwischen als eine – wenn auch sehr seltene – Impfkomplikation anerkannt (vergleiche Anlagen B 9, Ziff. 4.4; B 10, S. 5 f.). Die Beklagte hat zudem im Schriftsatz vom 24.07.2023, Seite 6 unstreitig gestellt, dass bei der Klägerin ein TTS vorlag und dass die Anwendung des Impfstoffs nach den Umständen des Falls geeignet war, die Darmvenenthrombose im Rahmen eines TTS zu verursachen. Damit liegen die Voraussetzungen der Kausalitätsvermutung nach § 84 Abs. 2 AMG vor.

 

c)

 

41 Erfolglos beruft sich die Beklagte gegen das von der Klägerin geltend gemachte Auskunftsbegehren auf den Einwand, die Auskunft durch die Beklagte sei nicht erforderlich, § 84a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AMG. Sie wendet gegen die Erforderlichkeit ein, dass ein Schadensersatzanspruch unabhängig von der verlangten Auskunft nicht bestehe oder nicht durchsetzbar sei. Dies konnte die – insoweit darlegungs- und beweisbelastete – Beklagte jedoch nicht ausreichend darlegen.

 

aa)

 

42 Die Auskunftserteilung ist im Sinne des § 84a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AMG bereits dann erforderlich, wenn die Möglichkeit besteht, dass die begehrten Auskünfte der Feststellung eines Schadensersatzanspruchs dienen können. Andernfalls wären die vom Gesetzgeber mit dem Auskunftsanspruch verfolgten Ziele einer prozessualen Chancengleichheit und der beweisrechtlichen Besserstellung des Geschädigten für seinen auf § 84 AMG gestützten Schadensersatzanspruch nicht zu erreichen (BGH, Urteil vom 26. März 2013 – VI ZR 109/12 –, Rdnr. 41, juris). Vermag hingegen die begehrte Auskunft die beweisrechtliche Situation des die Auskunft Begehrenden in Bezug auf einen solchen Schadensersatzanspruch offensichtlich nicht zu stärken, fehlt die Erforderlichkeit (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 328/11 –, Rdnr. 21, juris).

 

43 Die Erforderlichkeit der Auskunft kann insbesondere fehlen, wenn unabhängig von der Auskunft eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 84 AMG offensichtlich ausgeschlossen ist (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 328/11 –, Rdnr. 26, juris). Der Einwand der Nichterforderlichkeit ist in diesem Fall aber nur dann erheblich, wenn er gegen die Ansprüche nach beiden Alternativen des § 84 Abs. 1 Satz 2 AMG durchgreift (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 328/11 –, Rdnr. 22, juris).

 

44 Die Darlegungs- und Beweislast für die mangelnde Erforderlichkeit gemäß § 84a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AMG trifft entgegen der Ansicht der Beklagten den pharmazeutischen Unternehmer (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 63/14 –, Rdnr. 19, juris). Dies folgt bereits aus dem Gesetzeswortlaut (BGH, Urteil vom 26. März 2013 – VI ZR 109/12 –, Rdnr. 41, juris). Dem steht die Gesetzesbegründung nicht entgegen. Zwar ist dort zunächst ausgeführt, dem Richter sei beim Nachweis der Nichterforderlichkeit lediglich eine Plausibilitätsprüfung auferlegt (BT-​Drucks. 14/7752, Seite 21). In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung jedoch klargestellt, dass der Unternehmer darlegen und im Streitfall beweisen muss, dass die Auskunft zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs nicht erforderlich ist (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 328/11 –, Rdnr. 23, juris; BeckOGK/Franzki, 1.11.2023, AMG § 84a Rdnr. 14).

 

bb)

 

45 Die zwischenzeitlich erfolgte arzneimittelrechtliche Zulassung des Impfstoffs zu einem Zeitpunkt, als das Risiko eines TTS bereits bekannt war, schließt eine mögliche Haftung der Beklagten nicht aus. Die Zulassungsentscheidung führt nicht zu einer dauerhaften Haftungsfreistellung. Vielmehr kann eine Haftung dann in Betracht kommen, wenn sich nach der Zulassungsentscheidung neue Erkenntnisse ergeben haben, die zu einer anderen Zulassungsentscheidung Anlass gegeben hätten (NK-​MedR/Brixius, 4. Aufl. 2024, § 84 AMG, Rdnr. 6; Adem Koyuncu in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, 2. Ergänzungslieferung 2023, D. Die speziellen Haftungsvoraussetzungen des § 84 AMG –, Seite 29, juris). Dies kann der Fall sein, wenn nach der Zulassung bekannt wird, dass die schädlichen Wirkungen häufiger auftreten, gewichtiger sind oder in anderer Ausprägung auftreten, als bei der Zulassungsentscheidung angenommen (BeckOGK/Franzki, 1.2.2024, AMG § 84 Rdnr. 83).

 

cc)

 

46 Eine fehlende Erforderlichkeit lässt sich nicht bereits aus dem Umstand ableiten, dass die Auskunftsklage erst im Berufungsverfahren erhoben worden ist. Das maßgebliche Kriterium für die Erforderlichkeit ist nicht die Möglichkeit, einen Schadensersatzanspruch zu beziffern, sondern die mögliche Verbesserung der Beweissituation. Eine solche ist auch in der zweiten Instanz, die eine Tatsacheninstanz ist, möglich.

 

dd)

 

47 Ein Schadensersatzanspruch scheidet nicht offensichtlich wegen einer Haftungsbeschränkung nach § 3 Abs. 4 MedBVSV aus.

 

48 Nach § 3 Abs. 4 MedBVSV wird die Haftung der Hersteller nur wegen der auf § 3 Abs. 1 MedBVSV gestützten Abweichungen beschränkt. Es handelt sich hingegen nicht um eine generelle Haftungsbegrenzung.

 

49 Der Hersteller hat die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass hypothetisch auch die Verletzung einer der in § 3 Abs. 1 MedBVSV suspendierten Vorschriften den Schaden verursacht haben könnte (Dutta NJW 2022, 649 Rdnr. 16, beck-​online). Er hat den Vollbeweis (§ 286 ZPO) dafür zu erbringen, dass die auf § 3 Abs. 1 MedBVSV gestützten Abweichungen geeignet gewesen sind, den Schaden zu verursachen, anderenfalls greift der Haftungsausschluss nicht (auf der Heiden NJW 2022, 3737 Rdnr. 25, beck-​online; BeckOGK/Franzki, 1.4.2023, AMG § 84 Rdnr. 61).

 

50 Hierzu fehlt es an hinreichenden Anhaltspunkten im Vortrag der Beklagten. Zudem greift unter Zugrundelegung des Wortlauts, der Referentenentwürfe und europarechtlicher Vorschriften der Haftungsausschluss nicht für COVID-​19-​Impfstoffe, da diese ohne Abweichungen vom AMG zugelassen worden sind. Eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 84 AMG ist insoweit nicht ausgeschlossen (Voit in Tagungsbericht zu den 25. Marburger Gesprächen zum Pharmarecht, PharmR 2022, 469, beck-​online). ee)

 

51 Ein Anspruch nach § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG scheidet nicht bereits wegen fehlenden schlüssigen Vortrags der Klägerin aus.

 

52 Entgegen dem Vortrag der Beklagten ist nicht unstreitig, dass kein Produktfehler gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG vorliegt. Es ist auch nicht zutreffend, dass die Klägerin einen Produktfehler nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG nicht behauptet.

 

(1)

 

53 Grundsätzlich dürfen an die Darlegungslast des Anspruchstellers eines Schadensersatzanspruchs nach § 84 AMG keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, um ein weitgehendes Leerlaufen der Vorschriften über die Haftung für Arzneimittelschäden zu vermeiden (BGH, Urteil vom 19. März 1991 – VI ZR 248/90 –, Rdnr. 15, juris; BGH, Urteil vom 26. März 2013 – VI ZR 109/12 –, Rdnr. 25, juris). Der Auskunftsanspruch dient hingegen gerade der Gewinnung von Tatsachen und Erkenntnissen, auf deren Grundlage dann der Betroffene im Schadensersatzprozess den Nachweis des Bestehens seiner Ansprüche führen kann (BT-​Drucks. 14/7752, Seite 20).

 

(2)

 

54 Zwar hat der Senat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 03.07.2023 darauf hingewiesen, dass nach dem bisherigen Klagevortrag keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass nach der Zulassungsentscheidung vom 31.10.2022 neue Erkenntnisse aufgetreten sind, bei deren Berücksichtigung eine andere Zulassungsentscheidung veranlasst gewesen wäre, sodass eine Haftung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG zweifelhaft ist.

 

(3)

 

55 Diese Bewertung steht jedoch einem Auskunftsanspruch nicht entgegen.

 

56 Denn es ist nicht auszuschließen, dass die begehrte Auskunft der Klägerin Erkenntnisse liefert, die Anlass zu einer geänderten Nutzen-​Risiko-​Bewertung geben. Die Auskunft versetzt somit die Klägerin erst in die Lage, zu neuen Erkenntnissen vorzutragen. Im Rahmen der Auskunftsklage schon Darlegungen darüber zu verlangen, welche neue Erkenntnisse nach der Zulassungsentscheidung vorliegen, würde zu einem Zirkelschluss führen und dem Ziel des Auskunftsanspruchs nicht gerecht.

 

57 Die begehrte Auskunft kann daher zu einer Verbesserung der Beweissituation der Klägerin beitragen. Gegenteiliges hat die Beklagte nicht darlegen können.

 

(4)

 

58 Entgegen der Ansicht der Beklagten ist nicht unstreitig, dass der Impfstoff der Beklagten keine unvertretbaren Nebenwirkungsrisiken durch das TTS-​Risiko im Sinne des § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG hat. Soweit die Beklagte hierzu eine Äußerung des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung vom 03.07.2023 anführt, steht diese im Widerspruch zum durchgehenden schriftsätzlichen Vortrag der Klagepartei und ist nach Auffassung des Senats darauf zurückzuführen, dass dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Unterscheidung zwischen den beiden Haftungsalternativen des § 84 Abs. 1 AMG zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war. Der Senat vermag dieser Äußerung jedoch unabhängig davon nicht zu entnehmen, dass entgegen dem schriftsätzlichen Vortrag ein positives Nutzen-​Risiko-​Profil unstreitig gestellt oder der entsprechende schriftsätzliche Vortrag widerrufen werden sollte.

 

ff)

 

59 Auch scheidet ein Anspruch nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG nicht offensichtlich aus.

 

(1)

 

60 Ein Auskunftsanspruch ist gegeben, wenn sich aus den bei der Beklagten vorhandenen Informationen Konsequenzen für den im Rahmen des § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG relevanten Stand der medizinischen Wissenschaft ergeben können. Denn die dafür maßgeblichen wissenschaftlichen Erkenntnisse ergeben sich gerade auch aus der ärztlich-​klinischen Praxis und den dort beobachteten Gefahren des Arzneimittels (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 63/14 –, Rdnr. 23, juris).

 

61 Es ist ausreichend, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass sich aus den bei der Beklagten vorhandenen Informationen ergibt, dass die Kennzeichnung, Fach– oder Gebrauchsinformation des Medikaments – etwa im Hinblick auf die Häufigkeit von Nebenwirkungen, die dem bei der Klägerin aufgetretenen Krankheitsbild entsprechen – nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft genügte. Ob dem letztlich tatsächlich so ist, vermag Spekulation der Klagepartei sein. Sinn und Zweck des Auskunftsanspruchs aus § 84a AMG ist es aber gerade auch, dem Geschädigten in Bezug auf den Schadensersatzanspruch nach § 84 AMG eine gesicherte Erkenntnis- und Beurteilungsgrundlage zur Verfügung zu stellen (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 63/14 –, Rdnr. 23, juris). (2)

 

62 Die Klägerin trägt hierzu vor, dass der Beklagten bereits im Zeitpunkt der Impfung Informationen über die möglichen Komplikationen vorgelegen haben, die später in die geänderte Fachinformation eingeflossen seien, dass es schon vor dem Impftag Untersuchungen mit auffälligen thromboembolischen Ereignissen gegeben habe und dass der Beklagten schon vorher bekannt gewesen sei, dass Vektorimpfstoffe zur Bildung von PF4-​Antikörpern führen würden (Schriftsatz der Klägerin vom 02.04.2022, Seite 2 ff.).

 

63 Die Möglichkeit einer unzureichenden Information ist damit hinreichend dargelegt.

 

(3)

 

64 Eine Haftung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG ist nicht offensichtlich wegen fehlender Ursächlichkeit einer möglicherweise unzureichenden oder fehlerhaften Produktinformation ausgeschlossen.

 

65 Zwar setzt der Schadensersatzanspruch nach dieser Bestimmung voraus, dass die unzureichende oder fehlerhafte Information für die Anwendung des Medikaments ursächlich war (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 63/14, Rdnr. 28 –, juris). Im Rahmen der Auskunftsklage ist jedoch der Hersteller für die fehlende Erforderlichkeit der begehrten Auskunft und damit auch für die fehlende Ursächlichkeit einer unzureichenden Information darlegungs- und beweispflichtig. Soweit die Beklagte im Schriftsatz vom 10.03.2024, Seite 7f. ausführt, dass die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast für die Ursächlichkeit einer fehlerhaften Information bei der Impfentscheidung habe, trifft dies zwar im Rahmen des Schadensersatzanspruchs aus § 84 AMG zu. Im Rahmen des Auskunftsanspruchs nach § 84a AMG trifft aber die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Erforderlichkeit der Auskunft (vgl. oben 2. c) aa)).

 

66 Dass die Klägerin bei einer anderen Fachinformation und einer daraufhin gegebenenfalls geänderten STIKO-​Empfehlung nicht mit dem Impfstoff der Beklagten geimpft worden wäre, kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden.

 

67 Dem steht auch nicht der von der Beklagten angeführte Umstand entgegen, dass die STIKO am 19.03.2021 nach Auftreten der ersten Verdachtsmeldungen noch nicht zu einer Änderung ihrer Impfempfehlung kam (Stellungnahme der STIKO vom 19.03.2021, Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung am 19.02.2024), sondern eine solche erst am 01.04.2021 (Anlage B10) vornahm. Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit der Instruktion auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens der Charge am 28.02.2021 abzustellen, aus welcher der verabreichte Impfstoff stammte. Welche Auswirkungen sich aus einer zum Stichtag 28.02.2021 geänderten Information für die am 10.03.2024 geimpfte Klägerin ergeben hätten, wird maßgeblich davon abhängen, welches Gewicht dem gegebenenfalls vorliegenden Instruktionsfehler zukommt. Das wiederum kann erst nach Vorliegen der Klägerin begehrten Informationen beurteilt werden (vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – VI ZR 63/14 –, Rdnr. 28, juris).

 

3.

 

68 Die Beklagte schuldet der Klägerin Auskunft über die ihr bekannten Wirkungen und Nebenwirkungen sowie über Verdachtsfälle zu Nebenwirkungen und über sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Beurteilung der Vertretbarkeit von Bedeutung sein können. Dabei ist der Umfang der geschuldeten Auskunft hinsichtlich der Nebenwirkungen auf die bei der Klägerin eingetretene Nebenwirkung „Thrombose-​mit-​Thrombozytopenie-​Syndrom“ (TTS) beschränkt. Eine Auskunft über Kenntnisse zu Wechselwirkungen ist nicht geschuldet.

 

a)

 

69 Grundsätzlich richtet sich der Umfang des Auskunftsanspruchs gemäß § 84a Abs. 1 Satz 2 AMG auf dem pharmazeutischen Unternehmer bekannte Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen des Arzneimittels. Er umfasst weiter ihm bekannt gewordene Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen sowie schließlich sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen von Bedeutung sein können.

 

70 Diese nach dem Gesetzeswortlaut umfassende Auskunftspflicht ist jedoch vor dem Hintergrund einzuschränken, dass § 84a AMG seinem Sinn und Zweck nach Hilfsanspruch zum Schadensersatzanspruch nach § 84 AMG ist. Der Auskunftsanspruch dient der Gewinnung von Tatsachen und Erkenntnissen, auf deren Grundlage der Betroffene im Schadensersatzprozess den Nachweis des Bestehens seiner Ansprüche führen kann (BT-​Drucks. 14/7752, Seite 20). Das Ziel des Auskunftsanspruchs, dem Betroffenen die Tatsachen und Erkenntnisse zu verschaffen, die es ihm ermöglichen, die Voraussetzungen eines ihm zustehenden Schadensersatzanspruchs darzulegen und zu beweisen, beschränkt den Auskunftsanspruch deshalb auf die hierfür notwendigen Angaben. Das verhindert, dass das Auskunftsbegehren zu unbestimmten Informationsbegehren oder Ausforschungszwecken missbraucht wird (Adem Koyuncu in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, 3. Ergänzungslieferung 2023, G. Auskunftsanspruch gem. § 84a AMG –, Seite 4, juris).

 

71 Die gesetzlich geschuldete Auskunft umfasst somit nur die in § 84 a Abs. 1 Satz 2 AMG näher bezeichneten Informationen, die sich auf die konkret behaupteten schädlichen Arzneimittelwirkungen, mithin auf das im konkreten Einzelfall vorgebrachte Krankheitsbild beziehen und in einem Zusammenhang mit der Rechtsgutverletzung stehen (OLG Hamm, Urteil vom 9. Dezember 2020 – 3 U 82/19 –, Rdnr. 22, juris; OLG München, Beschluss vom 25. Januar 2019 – 8 W 1867/18 –, Rdnr. 18, juris; Kügel/Müller/Hofmann/Brock, AMG, 3. Aufl. 2022, § 84a, Rdnr. 35).

 

72 Ein Schadensersatzanspruch scheidet nämlich aus, wenn die Verletzung durch eine vertretbare Wirkung des Arzneimittels hervorgerufen wurde, das Arzneimittel darüber hinaus aber auch unvertretbare Nebenwirkungen hat (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84 Rdnr. 61). Ein Patient kann sich nicht darauf berufen, der Unternehmer habe im Hinblick auf anderweitige unvertretbare Nebenwirkungen eine Gefahr begründet, wenn sie sich bei ihm selbst nicht verwirklicht hat (OLG Karlsruhe, Urteil vom 8. Oktober 2008 – 7 U 200/07 –, Rdnr. 12, juris). b)

 

73 Hieraus ergeben sich im vorliegenden Fall Einschränkungen des Auskunftsanspruchs in mehrfacher Hinsicht.

 

74 Zum einen ist die Auskunft hinsichtlich etwaiger Nebenwirkungen und Verdachtsfälle von Nebenwirkungen auf die Fälle der bei der Klägerin relevanten Nebenwirkung Thrombose-​mit-​Thrombozytopenie-​Syndrom (TTS) zu beschränken. Das TTS stellt ein eigenständiges Krankheitsbild dar, während einem thromboembolischen Ereignis verschiedenste Ursachen zugrunde liegen können, die in keinem Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der Klägerin stehen müssen.

 

75 Zum anderen besteht kein Anspruch, soweit Auskunft über Wechselwirkungen und Verdachtsfälle von Wechselwirkungen verlangt wird, da eine Haftung wegen Gesundheitsbeschädigungen durch eine Wechselwirkung des Impfstoffs der Beklagten mit einem anderen Arzneimittel nicht behauptet wird.

 

76 Schließlich ist die von der Klägerin geforderte Auskunft über „weitere Erkenntnisse“ genauso wie die Auskunft über Nebenwirkungen auf Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit des TTS-​Risikos von Bedeutung sein können, zu beschränken.

 

c)

 

77 Im Übrigen ist die geforderte Auskunft in zeitlicher Hinsicht auf den Antrag der Klägerin gemäß § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO begrenzt.

 

4.

 

78 Hinsichtlich der Auskunftspflicht zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen in Bezug auf das Krankheitsbild TTS ist Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB eingetreten. Im Übrigen besteht die Auskunftspflicht der Beklagten fort.

 

a)

 

79 Erfüllt ist der Anspruch, wenn die Angaben nach dem erklärten Willen des Schuldners die Auskunft im geschuldeten Gesamtumfang darstellen. Wesentlich für die Erfüllung des Auskunftsanspruchs ist daher die – gegebenenfalls konkludente – Erklärung des Auskunftsschuldners, dass die Auskunft vollständig ist (BGH, Urteil vom 3. September 2020 – III ZR 136/18 –, Rdnr. 43, juris).

 

80 Die Annahme eines derartigen Erklärungsinhalts setzt demnach voraus, dass die erteilte Auskunft erkennbar den Gegenstand des berechtigten Auskunftsbegehrens vollständig abdecken soll. Daran fehlt es beispielsweise dann, wenn sich der Auskunftspflichtige hinsichtlich einer bestimmten Kategorie von Auskunftsgegenständen nicht erklärt hat, etwa weil er irrigerweise davon ausgeht, er sei hinsichtlich dieser Gegenstände nicht zur Auskunft verpflichtet. Dann kann der Auskunftsberechtigte eine Ergänzung der Auskunft verlangen (BGH, Urteil vom 15. Juni 2021 – VI ZR 576/19 –, Rdnr. 20, juris).

 

81 Entgegen der Fälle, in denen eine Rechnungslegung gemäß § 259 Abs. 1 BGB oder ein Bestandsverzeichnis gemäß § 260 Abs. 1 BGB geschuldet und der Auskunftsanspruch erst bei vollständiger Auskunftserteilung erfüllt ist, kommt vorliegend eine teilweise Erfüllung in Betracht. Der Gesetzgeber hat in § 84a Abs. 1 Satz 2 AMG verschiedene Kategorien aufgeführt, hinsichtlich derer Auskunft zu erteilen ist. § 84a AMG begründet keine Pflicht des pharmazeutischen Unternehmers zur Rechenschaftslegung und damit zur Vorlage von Dokumenten (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84a Rdnr. 44). Von bloßen Teilakten, die nicht zu einer teilweisen Erfüllung des Auskunftsanspruchs führen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – XII ZB 385/13 –, Rdnr. 18 –, juris), ist vorliegend nicht auszugehen.

 

b)

 

82 Nach diesen Grundsätzen ist hinsichtlich der Auskunftspflicht zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen in Bezug auf das Krankheitsbild TTS bereits Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB eingetreten.

 

83 Die Beklagte hat insoweit durch die Anlage B23 zum Schriftsatz vom 09.02.2024 Auskunft zu den Stichtagen 10.03.2021, 28.02.2021 und 28.12.2022 erteilt. Zusätzlich führte die Beklagte im Termin vom 19.02.2024 aus, dass diese Auskunftserteilung vollständig und abschließend sei (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19.02.2024, Seite 3). Die Abgabe dieser Erklärung ist durch das Protokoll als öffentliche Urkunde gemäß § 415 Abs. 1 ZPO bewiesen.

 

84 Zwar hat die Klägerin diese Auskunft bestritten. Soweit sich das Bestreiten auf die inhaltliche Richtigkeit bezieht, hindert dies eine Erfüllung jedoch nicht. Denn die etwaige inhaltliche Unrichtigkeit steht einer Erfüllung nicht entgegen (BGH, Urteil vom 3. September 2020 – III ZR 136/18 –, Rdnr. 43, juris).

 

85 Damit liegt seitens der Beklagten die Erklärung einer vollständigen Auskunft hinsichtlich der Verdachtsmeldungen von TTS vor. Mit dieser abschließenden Negativauskunft ist der Auskunftsanspruch des Klägers hinsichtlich dieses Auskunftsgegenstandes erfüllt (BGH, Urteil vom 15. Juni 2021 – VI ZR 576/19 –, Rdnr. 26, juris).

 

c)

 

86 Im Übrigen ist entgegen der Auffassung der Beklagten keine Erfüllung eingetreten.

 

aa)

 

87 Dies gilt zunächst hinsichtlich der bekannten Wirkungen des Impfstoffs „xxx“.

 

88 Die Auskunft über die Wirkungen ist umfassend geschuldet, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, eine eigene Bewertung des Nutzen-​Risiko-​Verhältnisses des Impfstoffs vorzunehmen. Der Verweis auf die aktuelle Fachinformation (vgl. Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19.02.2024) ist nicht geeignet, der Klägerin Auskunft über die Wirkungen des Impfstoffs zu erteilen. Der Auskunftsanspruch erschöpft sich nicht in der Wiederholung der Angaben in Fach- und Gebrauchsinformationen (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl., 2022, AMG § 84a Rdnr. 36).

 

89 Dass Studien zur Wirksamkeit des Impfstoffs der Klägerin vorgelegt wurden, trägt die Beklagte nicht vor. Der Verweis auf den CHMP/PRAC-​Assessment-​Report vom 13.10.2022 (Anlage B21), der letztlich nur die Bewertung des Gesamtnutzens enthält und auf Zulassungsstudien verweist, ist nicht behelflich. Geschuldet ist die Mitteilung der zugrundeliegenden Tatsachen, um der Klägerin eine eigene Bewertung zu ermöglichen (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84a Rdnr. 32).

 

bb)

 

90 Der Auskunftsanspruch wurde auch hinsichtlich der bekannten Nebenwirkungen, soweit sie das TTS betreffen, nicht erfüllt.

 

91 Die Beklagte verweist hierzu wiederum auf die vorgelegte Fachinformation. Diese enthält über die bei der Klägerin relevante Nebenwirkung des TTS die Information, dass diese „sehr selten“ auftrete (Fachinformation Seite 3, Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19.02.2024). Der vorgelegte Assessment Report der EMA vom Oktober 2022, in dem die Sachverständigen die aktuellen Erkenntnisse über Wirksamkeit und Sicherheit von „xxx“ aus den klinischen Studien, Pharmacovigilanz-​Daten und der klinischen Erfahrung aus der milliardenfachen Anwendung von „xxx“ zusammenfassen (Anlage B21) enthält gleichfalls keine Angaben zu konkreten Fallzahlen und verweist wiederum auf die Fachinformation der Beklagten (Anlage B21 unter „3.4.1. Actions taken for safety reason“).

 

92 Die Beklagte führt weiter aus, dass sie der Klägerin bereits umfangreiche Informationen zur Verfügung gestellt habe. Dabei handelt es sich jedoch um Informationen, die im Rahmen der Zulassungsstudien vorlagen, sowie Berichte der EMA und PEI mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse am 10.03.2021 bzw. des PRAC vom 11.03.2021. Hierin sind schon keine Auskünfte enthalten, die den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung über die Auskunftsklage betreffen.

 

93 Wenn des Weiteren auf öffentlich zugängliche Informationen oder Informationen, die seitens der Beklagten den öffentlichen Behörden im Rahmen des Zulassungsverfahrens erteilt wurden, verwiesen wird, kann dies nach Auffassung des Senats eine Erfüllung nicht begründen. Die Klägerin hat grundsätzlich ein berechtigtes Interesse, die Vollständigkeit und Korrektheit der Angaben unmittelbar von dem betroffenen pharmazeutischen Unternehmer bestätigt zu bekommen (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84a Rdnr. 25). Der pharmazeutische Unternehmer kann den Arzneimittelgeschädigten nicht auf dessen Informationsanspruch gegen die Behörden gemäß § 84a Abs. 2 Satz 1 AMG verweisen (BeckOGK/Franzki, 1.2.2024, AMG § 84a Rdnr. 17; Kügel/Müller/Hofmann/Brock, a.a.O., Rdnr. 26).

 

cc)

 

94 Soweit die Beklagte Auskunft über sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen des Impfstoffs „xxx“ der Beklagten von Bedeutung sein können, schuldet, ist Erfüllung bislang ebenfalls nicht eingetreten.

 

95 Dass die Beklagte dazu umfassend Auskunft erteilt hat, wird bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen. Erst im nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 10.03.2024, Seite 18, letzter Absatz führt die Beklagte aus: „Weitere Erkenntnisse“, die für die Bewertung der Vertretbarkeit des TTS-​Risikos von Bedeutung sein können und die über die mitgeteilten oder öffentlich zugänglichen Informationen zu „Wirkungen“, „Nebenwirkungen“ und einschlägigen „Verdachtsfällen“ hinausgehen, hat die Beklagte nicht.

 

96 Diese erteilte Negativauskunft ist jedoch nach § 296a Satz 1 ZPO präkludiert. Anlass für eine Wiedereröffnung der Verhandlung gemäß § 156 ZPO besteht nicht.

 

5.

 

97 Die nicht nachgelassenen Schriftsätze vom 10.03.2024 und vom 02.04.2024 gebieten weder nach § 156 Abs. 2 ZPO noch nach § 156 Abs. 1 ZPO ein Wiedereintreten in die mündliche Verhandlung.

 

V.

 

98 Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

 

99 Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10 Satz 1, 711, 713 ZPO.

 

100 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Rechtsfragen grundsätzlicher Natur, die über den konkreten Einzelfall hinaus von Interesse sein könnten, haben sich nicht gestellt und waren nicht zu entscheiden.