Verwaltungsgericht Koblenz, Beschluss vom 1. September 2022, Az.: 3 L 784/22.KO

Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr

Entscheidungen in Leitsätzen

BtMG 22 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 BtMG; § 5 Abs. 9 BtMVV; § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO

Leitsatz der Redaktion:

Bei einem Verstoß gegen § 5 Abs. 9 Betäubungsmittelverschreibungsverordnung („Take-Home-Verschreibungen“) kann einem Arzt die Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr im Sofortvollzug untersagt werden.

 

Gründe

 

1 Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.

 

2 Zunächst versteht die Kammer den Antrag bei einer am Rechtsschutzziel orientierten Auslegung gemäß § 122 Abs. 1 i. V. m. § 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – dahingehend, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 1. August 2022 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 28. Juli 2022 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in Bezug auf die für sofort vollziehbar erklärte Untersagung der weiteren Teilnahme der Antragstellerin am Betäubungsmittelverkehr und Herausgabe der noch in ihrem Besitz befindlichen Betäubungsmittelrezepte in Ziffer 1 wiederherzustellen und im Hinblick auf die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 anzuordnen.

 

3 Der so verstandene Antrag ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.

 

4 1. Der Antrag ist unzulässig, soweit er sich auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Anordnung der Herausgabe der Betäubungsmittelrezepte bezieht, da diese Anordnung sich infolge des Fristablaufs im Sinne von § 1 Abs. 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG – i. V. m. § 43 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – erledigt hat. Die der Antragstellerin zur Herausgabe der Betäubungsmittelrezepte gesetzte Frist von zehn Tagen nach Zustellung der Verfügung ist mit Ablauf des 9. August 2022 verstrichen. Ein Verwaltungsakt kann sich durch Zeitablauf erledigen, wenn die Zeitbestimmung zum wesentlichen Inhalt des Verwaltungsakts gehört (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 31. Mai 2011 – 10 S 794/09 – juris, Rn. 16). Dies ist vorliegend der Fall. Der Antragsgegner hat die Zwangsgeldandrohung unter Ziffer 3 ausweislich der dazugehörigen Begründung auf die Anordnung der Untersagung der weiteren Teilnahme der Antragstellerin am Betäubungsmittelverkehr beschränkt, sodass die Fristsetzung für die Herausgabeanordnung nicht Teil einer Vollstreckungsvorbereitungshandlung, sondern vielmehr originärer und wesentlicher Bestandteil der Herausgabeanordnung selbst ist. Ist eine Vollstreckung der Anordnung der Herausgabe der Betäubungsmittelrezepte gegenüber der Antragstellerin somit infolge Zeitablaufs nicht mehr möglich, fehlt ihr für ihren Antrag insoweit das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

 

5 2. Der im Hinblick auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die für sofort vollziehbar erklärte Untersagung ihrer weiteren Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet.

 

6 a) Die Anordnung des Sofortvollzugs genügt den formellen Anforderungen, insbesondere ist das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO beachtet worden. Ob die Begründung die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch inhaltlich trägt – was die Antragstellerin in Zweifel gezogen hat – bedarf im Rahmen des formellen Begründungserfordernisses nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO keiner Entscheidung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Dezember 2020 – 4 VR 4.20 – juris, Rn. 10). Auch war die Antragstellerin vor Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht gemäß § 1 Abs. 1 LVwVfG i. V. m. § 28 Abs. 1 VwVfG gesondert anzuhören, da § 28 Abs. 1 VwVfG insoweit weder direkt noch analog Anwendung findet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. August 1994 – 10 S 1767/94 – juris, Rn. 12 m. w. N.).

 

7 b) Dies vorausgeschickt ist zur Entscheidung über den Antrag das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angegriffenen Verfügung mit dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung der widerstreitenden Interessen kommt den nach dem Wesen des Eilverfahrens nur summarisch zu prüfenden Erfolgsaussichten des in der Hauptsache erhobenen Rechtsbehelfs eine maßgebliche Bedeutung zu. Das öffentliche Interesse am Sofortvollzug hat regelmäßig Vorrang, wenn der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ein hiergegen erhobener Rechtsbehelf mithin aussichtslos ist. Umgekehrt überwiegen die privaten Interessen der Antragstellerin, wenn der Widerspruch offensichtlich Erfolg hat. Sind hingegen die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs offen, hängt die gerichtliche Entscheidung vom Gewicht der unterschiedlichen Interessen unter Berücksichtigung der möglichen Folgen des Suspensiveffekts einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits ab.

 

Gemessen hieran fällt die Interessenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus. Denn nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr als offensichtlich rechtmäßig. Aus diesem Grund gebührt dem öffentlichen Vollzugsinteresse der Vorrang vor dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin.

 

9 aa) Die Untersagungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in der spezialgesetzlichen Norm des § 22 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln – BtMG -.

 

10 In formeller Hinsicht ist die Untersagung nicht zu beanstanden. Zwar wurde die Antragstellerin vor Erlass des Bescheides nicht gemäß § 1 Abs. 1 LVwVfG i. V. m. § 28 Abs. 1 VwVfG angehört. Von der Anhörung konnte entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch nicht gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG abgesehen werden, da es sich bei der Untersagungsanordnung vor dem Hintergrund, dass der Antragsgegner bis zum Erlass dieser Verfügung das Ergebnis des sich über vier Jahre ziehenden Strafverfahrens abgewartet hat, nicht mehr um eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse handelte. Der Verstoß gegen die Anhörungspflicht wurde jedoch gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG geheilt. Denn der Antragsgegner hat in der streitgegenständlichen Verfügung die für ihn maßgebenden Tatsachen und Ermessenserwägungen ausführlich dargelegt – wozu die Antragstellerin jedenfalls im vorliegenden Verfahren Gelegenheit zur Stellungnahme hatte – und sich unter Berücksichtigung dieses Vorbringens im gerichtlichen Verfahren dazu entschieden, an seiner Verfügung festzuhalten (i. E. ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Juni 2016 – 20 B 1408/15 – juris, Rn. 7ff).

 

11 Auch in materieller Hinsicht erweist sich die Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr als offensichtlich rechtmäßig.

 

12 Es besteht eine dringende Gefahr für die Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs im Sinne von § 22 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 BtMG, da die Antragstellerin in erheblichem Maße gegen die betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften zur Vornahme von sogenannten „Take-Home-Verschreibungen“ verstoßen hat.

 

13 Die in den von der Antragstellerin verschriebenen Substitutionsmitteln L-Polamidon und Subutex enthaltenen Wirkstoffe Levomethadonhydrochlorid und Buprenorphinhydrochlorid sind Betäubungsmittel im Sinne der Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG. Gemäß § 13 Abs. 1 BtMG dürfen sie von Ärzten nur dann verschrieben werden, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen Körper begründet ist. Für Substitutionstherapien konkretisiert § 5 der Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung – BtMVV -) die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verschreibung von Substitutionsmitteln. § 5 Abs. 9 BtMVV normiert dabei die Voraussetzungen für die Durchführung der von der Antragstellerin durchgeführten „Take-Home-Verschreibungen“. Gemäß § 5 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BtMVV darf der Arzt das Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme gemäß den Feststellungen der Bundesärztekammer nach § 5 Abs. 12 Satz 1 Nr. 3b) BtMVV in der für bis zu sieben Tagen benötigten Menge nur verschreiben, sobald und solange er zu dem Ergebnis kommt, dass eine Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Verbrauch nach § 5 Abs. 7 BtMVV nicht mehr erforderlich ist. Die in Vollzug des § 5 Abs. 12 Satz 1 BtMVV erlassene Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger in der Fassung vom 27./28. April 2017 stellt diesbezüglich den anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft dar (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 14. April 2005 – 25 CS 05.102 – juris, Rn. 19). Sie sieht vor, dass der Arzt in seine Entscheidung über die Anwendung des „Take-Home-Verfahrens“ unter anderem einstellen soll, ob die Risiken einer Selbst- oder Fremdgefährdung, insbesondere für gegebenenfalls im Haushalt mitlebende Kinder, soweit wie möglich ausgeschlossen sind und der Patient stabil keine weiteren Substanzen konsumiert, die zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Gefährdung führen können (vgl. Ziffer 4.1.2. der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opoidabhängiger). Eine Verschreibung zur eigenverantwortlichen Einnahme der Substitutionsmittel setzt die Zuverlässigkeit des Patienten voraus, an der es fehlt, wenn er das Substitutionsmittel nicht einnimmt (vgl. Weber in: Weber/Kornprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, Kommentar, 6. Auflage 2021, § 5 BtMVV Rn. 152).

 

14 Unter Zugrundelegung und in eigener Würdigung der Feststellungen des rechtskräftigen Strafbefehls des Amtsgerichts A… vom 1. Juni 2022, in dem gegenüber der Antragstellerin wegen unerlaubten Verschreibens von Betäubungsmitteln eine Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen zu je 180,– € festgesetzt worden ist, gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass die Antragstellerin die vorgenannten betäubungsmittelrechtlichen Vorgaben in erheblichem Maße missachtet hat. Sie hat in (mindestens) 138 Fällen betreffend insgesamt sieben ihrer Patienten „Take-Home-Verschreibungen“ vorgenommen, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht vorgelegen haben.

 

15 Besonders schwer ins Gewicht fällt im Fall der Patientin C…, dass die Antragstellerin die „Take-Home-Verschreibungen“ nicht eingestellt hat, obwohl die Kriminalinspektion B… ihr mit Schreiben vom 13. Februar 2017 mitgeteilt hatte, dass bei einer Feier in der Wohnung der Patientin ein Bekannter ihres Sohnes verstorben sei, im Rahmen der Obduktion ein Vortest auf Polamidon positiv reagiert habe und eine Möglichkeit bestehe, dass Partygäste Polamidon aus dem Schlafzimmer der Patientin genommen hätten oder Polamidon mit einem Süßgetränk vermischt in der Wohnung gestanden habe. Mit weiterem Schreiben vom 20. März 2018 konkretisierte die Kriminalinspektion B… den Vorfall der Antragstellerin gegenüber dahingehend, dass die Patientin C… das ihr verschriebene Polamidon zumindest derart unzureichend gesichert aufbewahrt habe, dass mindestens drei männliche Jugendliche hiervon konsumiert hätten und in direkter Folge des Konsums ein Jugendlicher verstorben sei, sowie zwei weitere Jugendliche Anzeichen einer Intoxikation gezeigt hätten. Trotz dieser Hinweise änderte die Antragstellerin ihre Verordnungspraxis nicht und nahm von den „Take-Home-Verschreibungen“ keinen Abstand, obwohl deutliche Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit der Patientin C… in Bezug auf Aufbewahrung und Einnahme des Substitutionsmittels vorgelegen haben. Denn diese bewahrte das ihr verschriebene L-Polamidon nicht so auf, dass eine Fremdgefährdung soweit wie möglich ausgeschlossen war. Aus der Patientenakte geht auch nicht hervor, dass die Antragstellerin aufgrund dieser Hinweise die Substitutionstherapie im Wege des „Take-Home-Verfahrens“ überdacht bzw. aus welchen Gründen sie weiterhin an dieser Art der Verschreibung festgehalten hat. Überdies hat die Antragstellerin die „Take-Home-Verordnungen“ fortgesetzt, obwohl bei mehreren Drogenscreenings der in dem Strafbefehl aufgeführten Patienten bei verschiedenen Anlässen entweder nachgewiesen wurde, dass sie das Substitutionsmittel nicht eingenommen hatten (betreffend die Patienten C… und D…) oder dass sie neben dem Substitutionsmittel weitere Betäubungsmittel konsumierten (betreffend die Patienten C…, E…, F…, G…, H… und I…). Im Fall des Patienten G… hielt die Antragstellerin an der Verordnung der Substitutionsmittel im „Take-Home-Verfahren“ fest, obwohl ihr mitgeteilt worden war, dass dieser ein Rezept gefälscht hatte. Im Übrigen spricht nach Aktenlage einiges dafür, dass die „Take-Home-Verschreibungen“ wenigstens zum Teil ohne den in § 5 Abs. 9 Satz 6 BtMVV geforderten persönlichen Kontakt zwischen der Antragstellerin und ihren Patienten erfolgten. Insoweit sagte auch die Zeugin und Arzthelferin J… bei ihrer Vernehmung am 4. März 2020 aus, „früher“ habe ein zuverlässiger Patient sein Rezept an die Apotheke geschickt bekommen, wenn er krank gewesen sei und nicht persönlich habe erscheinen können.

 

16 Soweit die Antragstellerin die fehlende Begutachtung ihrer Verordnungspraxis durch einen ärztlichen und suchtmedizinisch qualifizierten Sachverständigen rügt sowie geltend macht, der Strafbefehl beruhe auf zwei veralteten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus den Jahren 2012 und 2014, gebietet dies keine andere rechtliche Bewertung. Die Kammer hat insoweit keine Zweifel an der Richtigkeit des rechtskräftigen Strafbefehls. Da allein die Frage zu beantworten war, ob die „Take-Home-Verschreibungen“ der Antragstellerin unter Verstoß gegen die Vorgaben des § 5 BtMVV erfolgten, war vorliegend keine Begutachtung aus ärztlicher Sicht erforderlich. Zwar ist der Antragstellerin hinsichtlich der zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zuzugeben, dass die Vorschrift des § 5 Abs. 8 Satz 4 bis 6 BtMVV in der Fassung vom 21. Juli 2009 betreffend die Substitutionsbehandlung im „Take-Home-Verfahren“ durch Artikel 1 der Dritten Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung mit Wirkung zum 30. Mai 2017 geändert wurde und die beiden Entscheidungen sich insoweit auf die frühere Rechtslage beziehen. Durch die Neufassung des § 5 BtMVV hat sich die geltende Rechtslage allerdings nicht grundlegend verändert. Vielmehr sollte mit § 5 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BtMVV die frühere Regelung in § 5 Abs. 8 Satz 4 bis 6 BtMVV a. F. im Grundsatz fortgeführt werden (vgl. Weber in: Weber/Kornprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, Kommentar, 6. Auflage 2021, § 5 BtMVV Rn. 147). Auch an der Strafbarkeit der Verschreibung von Substitutionsmitteln im „Take-Home-Verfahren“ trotz Kenntnis der Nichteinnahme des Substitutionsmittels hat sich nach der Neufassung des § 5 BtMVV und der Richtlinie der Bundesärztekammer nichts geändert (vgl. Patzak in: Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz, Kommentar, 10. Auflage 2022, § 5 BtMVV Rn. 77; Weber in: Weber/Kornprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, Kommentar, 6. Auflage 2021, § 5 BtMVV Rn. 152). Hinsichtlich der Problematik des Beikonsums hat der Bundesgerichtshof bereits in seinem Urteil vom 28. Januar 2014 festgestellt, dass nicht jeder Beikonsum zum Abbruch der Substitutionsbehandlung führen muss, wenn noch berechtigte Aussichten darauf bestehen, den zusätzlichen Konsum von Betäubungsmitteln zu beherrschen, indem dieser zunächst eingeschränkt und schließlich abgestellt wird (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 StR 494/13 – juris, Rn. 56). Im Übrigen ist anzumerken, dass ein signifikanter Anteil der von der Antragstellerin vorgenommenen und dem Strafbefehl vom 1. Juni 2022 zugrunde liegenden Verschreibungen vor der Neufassung des § 5 BtMVV sowie der Richtlinie der Bundesärztekammer unter Geltung der alten Rechtslage erfolgten.

 

17 Auch der Verweis der Antragstellerin auf ihre medizinische Einschätzungsprärogative begründet keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung. Es wird nicht – auch nicht seitens des Antragsgegners – in Abrede gestellt, dass der Antragstellerin ein ärztlicher Beurteilungsspielraum bei der Durchführung der Substitutionstherapie zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 2014, a. a. O., Rn. 43). Dieser wurde allerdings jedenfalls in den in dem rechtskräftigen Strafbefehl abgeurteilten Fällen überschritten. Auch soweit die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger in Ziffer 4.1.2. Sollvorschriften enthält, ist zu beachten, dass diese gerade kein ärztliches Ermessen begründen, sondern ein Abweichen von diesen Vorschriften nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt und im Einzelnen zu begründen ist (vgl. Weber in: Weber/Kornprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, Kommentar, 6. Auflage 2021, § 5 BtMVV Rn. 154). Dies hat die Antragstellerin nach Aktenlage indes nicht getan.

 

18 Der Einwand der Antragstellerin, die möglichen Gefahren rechtswidriger Verschreibungen von Betäubungsmitteln hätten sich in keinem Fall verwirklicht und es sei nie zu einer konkreten Gefahr gekommen, verfängt ebenfalls nicht. Denn dringende Gefahren für die Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs im Sinne von § 22 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 BtMG bestehen nicht erst dann, wenn aufgrund einer unzulässigen Verschreibung von Betäubungsmitteln Gesundheitsschäden bei Patienten oder Dritten eintreten. Vielmehr stellt die gesetzeswidrige und strafbewährte Verschreibungspraxis der Antragstellerin selbst eine dringende Gefahr für die Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs dar. Überdies ist es angesichts des Todes eines Jugendlichen, der von der Patientin C… in einer ungekennzeichneten Flasche gelagertes L-Polamidon zu sich genommen hatte, schlicht unzutreffend, dass die möglichen Gefahren rechtswidriger Betäubungsmittelverschreibungen sich in keinem Fall verwirklicht hätten.

 

19 Dem Antragsgegner ist schließlich auch nicht anzulasten, mit dem Erlass der Verfügung bis zum Abschluss des gegen die Antragstellerin laufenden Strafverfahrens abgewartet zu haben. Dass betäubungsmittelrechtliche Maßnahmen bereits zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wären, macht die nun getroffene Verfügung nicht rechtswidrig.

 

20 Die einschränkungslose Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr erweist sich unter Zugrundelegung des im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfungsmaßstabs auch nicht als ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 1 VwGO), da sie (noch) verhältnismäßig ist. Denn vorliegend überwiegt der Schutz der durch die Verordnungspraxis der Antragstellerin gefährdeten gewichtigen Rechtsgüter von Leben und Gesundheit ihrer Patienten sowie deren Kontaktpersonen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz – GG -) das durch die streitgegenständliche Untersagungsverfügung beeinträchtigte Grundrecht der Antragstellerin auf Berufsfreiheit (vgl. Art. 12 Abs. 1 GG). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Untersagung der weiteren Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr eine Berufsausübungsregel darstellt, die bereits gerechtfertigt ist, soweit – wie hier – vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls sie zweckmäßig erscheinen lassen (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. Juni 1958 – 1 BvR 596/56 – juris, Rn. 74).

 

21 Zwar ist der Antragstellerin zuzustimmen, dass die von dem Antragsgegner angeführten Verfehlungen sich ausschließlich auf den Bereich der „Take-Home-Verschreibungen“ im Rahmen von Substitutionstherapien beschränken. Weitere Verstöße gegen betäubungsmittelrechtliche Vorschriften außerhalb der Substitutionstherapie hat der Antragsgegner nicht festgestellt. Die Kammer verkennt vor diesem Hintergrund nicht die Möglichkeit der lediglich teilweisen Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr im Form des Verbots der Durchführung von Substitutionstherapien. Allerdings rechtfertigen die betäubungsmittelrechtlichen Verfehlungen der Antragstellerin die einschränkungslose Untersagung am Betäubungsmittelverkehr, da sie sowohl quantitativ als auch qualitativ von besonderem Gewicht sind. Die rechtswidrigen „Take-Home-Verschreibungen“ erfolgten über einen Zeitraum von sechs Jahren und in (mindestens) 138 Fällen. Darüber hinaus zeigt die Antragstellerin sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich des ihr gemachten strafrechtlichen Vorwurfs weiterhin uneinsichtig, da sie ihre Therapieentscheidungen auch in den abgeurteilten Fällen für stets vertretbar hält. In die Verhältnismäßigkeitserwägungen ist diesbezüglich auch einzustellen, dass nach der gesetzgeberischen Wertung der Verkehr mit Betäubungsmitteln grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise nach Erteilung einer Erlaubnis im Sinne von § 3 Abs. 1 BtMG erlaubt ist. Gerade im Bereich der Substitutionstherapie und umso mehr bei „Take-Home-Verschreibungen“ trägt der behandelnde Arzt eine besondere Verantwortung (vgl. auch Ziffer 4.1. der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opoidabhängiger). Hierbei handelt es sich um einen besonders sensiblen Bereich des Betäubungsmittelrechts, da zum einen die Patienten suchtkrank und hierdurch in ihrer Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln eingeschränkt sind und zum anderen unkontrollierte Take-Home-Verschreibungen sich in der Vergangenheit als eine Hauptquelle für den illegalen Handel an Substitutionsmitteln erwiesen haben (vgl. Weber in: Weber/Korbprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, Kommentar, 6. Auflage 2021, § 5 BtMVV Rn. 130). Die Antragstellerin hat durch ihre Verordnungspraxis in der Vergangenheit jedoch gezeigt, dass sie nicht die Gewähr dafür bietet, bei der Verordnung von Betäubungsmitteln die gebotene Vorsicht und Überwachung der Patienten walten zu lassen. Vor diesem Hintergrund hat die Antragstellerin sich durch ihr Verhalten als generell unzuverlässig im Umgang mit Betäubungsmitteln erwiesen. Diese Unzuverlässigkeit zeigt sich auch darin, dass bei der Durchsuchung ihrer Praxis am 12. März 2019 von der Antragstellerin unterschrieben Blanko-Rezeptformulare am Anmeldetresen gefunden wurden. Es besteht bei summarischer Betrachtung die begründete Gefahr, dass sie auch bei der Verschreibung oder Anwendung von Betäubungsmitteln außerhalb von Substitutionstherapien die geltenden betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften als für sie nicht bindend betrachten und sich darüber hinwegsetzen könnte. Die lediglich teilweise Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr würde der Gefahr der gesetzeswidrigen Verschreibung anderer Betäubungsmittel durch die Antragstellerin nicht ausreichend begegnen. Darüber hinaus erweist sich der Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin unter Berücksichtigung des von dem BtMG und der BtMVV bezweckten Schutzes von Leben und Gesundheit, mithin überragend wichtiger Rechtsgüter, als gering. Denn der Antragsgegner hat – von der Antragstellerin unbestritten – dargelegt, dass diese lediglich vier Betäubungsmittelverschreibungen bei täglich zwischen 20 und 50 zu behandelnden Patienten vornimmt.

 

22 3. Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 1. August 2022 hinsichtlich der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ist in der Sache ebenfalls unbegründet.

 

23 Hat ein Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung, wie vorliegend gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 20 Landesgesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung, so kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anordnen, wenn die vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das private Interesse der Antragstellerin, von der Zahlung des angedrohten Zwangsgeldes bis zum Abschluss des von ihr insoweit eingeleiteten Rechtsbehelfsverfahrens vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an einer hiervon nicht gehinderten Vollstreckung des Zwangsgeldes überwiegt. Im Hinblick auf die seitens des Gesetzgebers diesbezüglich angeordnete grundsätzliche Vorrangigkeit der öffentlichen Interessen an der Vollstreckung des Zwangsmittels vor den Interessen des Betroffenen ist die aufschiebende Wirkung erst dann anzuordnen, wenn überwiegende Gründe für die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechen. Dabei ist im Rahmen der Interessenabwägung auch zu berücksichtigen, dass sich die der Antragstellerin im Fall eines späteren Obsiegens in der Hauptsache drohenden Nachteile praktisch darin erschöpfen, dass ihr zeitweise die Disposition über den festgesetzten bzw. angedrohten Betrag entzogen wird.

 

24 Gemessen hieran ist die auf § 66 Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz – LVwVG – gestützte Zwangsgeldandrohung offensichtlich rechtmäßig, da auch die zu vollziehende Grundverfügung der Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr rechtmäßig ist. Gegen die Wahl des Zwangsgeldes gemäß §§ 62, 64 LVwVG und dessen Höhe bestehen keine rechtlichen Bedenken. Das Zwangsgeld durfte auch, wie geschehen, für jeden Fall der Zuwiderhandlung angedroht werden, da sich die Zwangsgeldandrohung ihrer Begründung zufolge ausschließlich auf die Untersagung der Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr, mithin auf ein Unterlassen der Antragstellerin bezieht (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 2. Juli 2014 – 7 B 10257/14.OVG – juris, Rn. 28).

 

25 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

 

26 Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstands beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz – GKG – und orientiert sich angesichts dessen, dass die Untersagung der weiteren Teilnahme am Betäubungsmittelverkehr in ihren Wirkungen einer teilweisen Gewerbeuntersagung gleichkommt, an den Ziffern 1.5 und 54.2.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (LKRZ 2014, 169).